@ Hans H.
Danke für deinen ausführlichen, guten und gerechten Beitrag.
Ich sehe, dass es wohl sehr schwierig ist, das Phänomen der Bürgerlichen Moral zu beschreiben. Daher will ich es jetzt einmal versuchen, hier eine Beschreiben zu entwerfen.
Zwei Vorbemerkungen halte ich für ausgesprochen wichtig, weil sie, soweit ich es beobachten konnte, eine große Rolle spielen:
1.) Der Unterschied zwischen der bürgerlichen und kirchlichen Moral.
Der Inhalt der moralischen Botschaft, was also beachtet, getan oder vermieden werden soll, ist im Wesentlichen identisch. Die bürgerliche und die kirchliche Moral unterscheiden sich somit eigentlich nicht. Der nahezu einzige Unterschied ist der, dass die persönliche Verantwortung bei der kirchliche Moral über den Tod hinaus geht, da man sich vor Gott rechtfertigen muss. Bei der bürgerlichen Moral endet die persönliche Verantwortung mit dem Tod des Menschen. Den Tote können nicht mehr handeln und somit sich auch nicht mehr an moralischen Lehrsätzen ausrichten.
2.) Die bürgerliche Moral je nach der gesellschaftlichen Stellung.
Bis zum 1. Weltkrieg versuchte sich das Bürgertum, und hier insbesondere das Großbürgertum, sich gemäß des Verhaltenscodex des Adels zu verhalten. Vornehm war also, sich so zu verhalten, wie dieses der Adel vorlebt. Nach dem 1. Weltkrieg verlor der Adel seine hervorgehobene Bedeutung, das Bürgertum und hier insbesondere das Großbürgertum hielten sich an dem Verhaltenscodex des Adels. Dieser Verhaltenscodex war somit nicht mehr an den Adel gebunden. Nach dem zweiten Weltkrieg war dieser Verhaltenscodex in ihrer ursprünglichen Form vom Bürgertum und dem Großbürgertum nicht mehr finanziell durchzuhalten und zu finanzieren. Dieses führte zu einer Veränderung dieses Verhaltenscodex. Mit dem Anstieg der finanziellen Versorgung der Bevölkerung und dem allgemeinem Wohlstand wuchs die Schicht der Arbeiter in die des Bürgertums hinein und vereinigte sich mit dieser. Der Verhaltenscodex wurde hierdurch einfacher und von vielen Förmlichkeiten befreit. Aber gleichzeitig auch ehrlicher.
J. -J. Rousseau schrieb in seinem Buch "Emil oder über die Erziehung" 1762, dass es mit der Erziehung junger Menschen enbenso sei, wie mit einem Baum. Will ich, dass der Baum eine schön Form hat und grute Früchte trägt, so muss dieser Baum daran gehindert werden, so zu wachsen, wie er es will. Er muss also beschnitten und in Form gebracht werden. Beim jungen Menschen muss man somit dafür sorgen, dass dieser seinen Trieben nicht zügellos nachgibt. Er muss lernen, sich zu beherrschen. Erst duch diese Selbstbeherrschung hat der Mensch die Chance, zu einem guten und charakterlich wertvollen Menschen heran zu wachsen. Der junge Mensch musst also lernen, die Erwartungen zu erfüllen, die ihm von seinen Erziehern und Eltern entgegen gebracht werden. Würde man den jungen Menschen nicht "beschneiden", so würde dieser sich zu einem charakterlich zweifelhaften Menschen entwickeln und dem Verderben preis gegeben.
Die bürgerliche Moral übernahm die Arroganz, die Verfehlungen bei anderen Menschen und insbesondere bei den gesellschaft besser gestellten, hart und unbarmherzig zu geißeln, eigene Verfehlungen jedoch herunter zu spielen.
In Bezug auf die Nacktheit ergab sich jetzt ein Unterscheidungskriterium, nämlich dass der "vornehmen Blässe". Ein Mensch, der draußen arbeitete, wurde von der Sonne gebräunt. Gehörte man jedoch zur "besseren Gesellschaft", so musste man sich nicht der Sonne aussetzen und war deswegen blass. Gerade diese Blässe war die Grundlage für den Ausspruch des "blauen Blutes" für den Adel. Ebenso wie der Adel übernahm das Bürgertum und hier insbesondere das Großbürgertum diese "vornehme Blässe". Nacktheit in der Öffentlichkeit war deswegen nicht möglich, weil dann der Körper ja von der Sonne gebräunt worden wäre und man ging dann so den Beweis der eigenen "Vornehmheit" verlustig.
Heute spielt die "vornehme Blässe" keine Rolle. Nein, der sonnengebräunte Körper ist kein Zeichen von niederer Arbeit, sondern von guter Gesundheit und daher erstrebenswert. Wenn man jetzt die Meinung vertreten würde, dass dadurch die Hemmschwelle für die Nacktheit in der Öffentlichkeit gefallen sei, so würde dieses sich schnell als ein Irrtum darstellen.
Jetzt stellt sich die Frage, wie konnte sich die Bestrebung nach einer sonnengebräunten Haut von der Nacktheit entkoppeln, so dass die Nacktheit nach wie vor tabu, die sonnengebräunte Haut jedoch sehr erstrebenbswert ist?