von natlion » Mi 7. Sep 2022, 10:52
Inhalt, falls die Bezahlschranke nachträglich noch zuschlagen sollte:
Das Glück liegt in vielen Dingen. Im "Lexikon der Leidenschaften" erzählen Menschen von Hobbys, die sie begeistern. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 36/2022.
Die Lust am Nacktsein habe ich lange vor dem Wandern entdeckt. Und zwar am Badesee. Das war Ende der Siebzigerjahre. Ich war damals oft baden, immer am normalen Strand. Und irgendwann hat mich die Neugier gepackt. Ich bin rüber zum textilfreien Strand und war sofort begeistert. Das war ein neues Lebensgefühl: keine nasse Badehose und totale Freiheit.
Viele Jahre später, 2001, habe ich eine Anzeige im Internet gesehen. Dort hat jemand nach Mitwanderern gesucht – und zwar nackten! Mit dem Wandern hatte ich zwar nicht viel Erfahrung, aber ich dachte mir: Warum nicht das Gewohnte mit dem Neuen verbinden und habe mich dort gemeldet.
Es mag komisch klingen, aber: Ich habe mich in der Gruppe von Anfang an wohlgefühlt. Viele, die neu mit dem Nacktwandern anfangen, sagen mir, sie hätten nicht gedacht, wie schnell sie sich dabei locker fühlen. Man unterhält sich dann über Hobbies, den Beruf und alles Mögliche auf der Welt und das Nacktsein wird zur Selbstverständlichkeit.
Beim Nacktwandern trifft sich die Gruppe auf einem Parkplatz. Meistens sind das um die 30 Leute: Männer und Frauen verschiedensten Alters, seltener auch Familien mit Kindern. Man zieht sich am Treffpunkt die Kleidung aus, setzt die Rucksäcke auf und los geht's! Die Wanderungen sind circa 16 Kilometer lang und eigentlich immer ein Erlebnis. Im Rothaargebirge sind wir mal auf einer Hängebrücke hin- und her geschaukelt. Kommen wir auf Wanderungen an einem Bach vorbei, setzen einige von uns sich rein und trocknen danach an der Luft.
Das Besondere am Nacktwandern ist das intensive Naturerlebnis. Man spürt die Wärme der Sonne auf der Haut, die Kühle im Schatten, jeden Windhauch, warme Sommerschauer. Ich bin auch schon mal bei null Grad nacktgewandert, mit Handschuhen und Mütze. Das Gefühl kann man nicht beschreiben, man muss es selbst erlebt haben.
Nackt zu wandern, ist übrigens vollkommen legal. Es gibt zwar den Straftatbestand Erregung öffentlichen Ärgernisses, aber der liegt nur vor, wenn öffentlich sexuelle Handlungen stattfinden. Beim Nacktwandern sind die natürlich ausgeschlossen. Es ist aber schon vorgekommen, dass jemand die Polizei wegen uns gerufen hat. Die Beamten waren dann nur verärgert, dass sie grundlos den ganzen Weg raus ins Taunusgebirge gefahren sind und dort harmlose Nacktwanderer angetroffen haben. Wir bevorzugen bei unseren Wanderrouten daher eher wenig frequentierte Wege.
Früher hat man auch mal böse Kommentare von Leuten zu hören bekommen: "Schweine" oder "sowas gehört sich nicht". Anfang der Zweitausender war das Hobby noch relativ unbekannt. Doch die Bewegung ist seitdem immer weitergewachsen, heute gibt es Gruppen überall in Deutschland und das Nacktwandern ist weitgehend akzeptiert. Trifft man doch mal Textilwanderer, sind sie freundlich und interessiert. Einmal kam uns eine Familie mit Kind entgegen, das zeigte entgeistert auf meine Füße und rief: "Guck mal, die sind ja barfuß!"