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Literaturtipp

Beitrag von Nudehiker » So 22. Jan 2023, 10:35

Hallo, habe vor kurzem ein Buch des Autors Hans-Peter Duerr gelesen "Nacktheit und Scham - der Mythos vom Zivilisationsprozess".

Fand ich (als Soziologe) recht spannend.

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Beschreibung
Kurzbeschreibung
Die heute im wesentlichen anerkannte Theorie der Zivilisation behauptet, daß die Menschen des Mittelalters, aber auch die Angehörigen der sogenannten primitiven Kulturen, im Vergleich zu uns Heutigen ihre Triebe und Affekte wenig gebunden oder geregelt hätten, daß in diesen Gesellschaften der Triebverzicht niedrig, die Mäßigung der Gefühle und Gefühlsäußerungen unerheblich gewesen sei. So heißt es, man habe einem Erwachsenen nicht sehr viel mehr Zurückhaltung abverlangt als einem Kind, weshalb uns heute ein mittelalterlicher Bauer oder eine Buschfrau aus der Kalahari zu Recht kindlich, einfältig, roh oder naiv erscheinen. Nacktheit, Sexualität, Defäkation, Körpergeräusche, Körpergeruch usw. seien bei einem solchen Menschen öffentlicher und ungleich weniger schambesetzt gewesen. Im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung der Menschen I sei nun deren soziale Verflechtung intensiver, die Abhängigkeit voneinander größer geworden, so daß es vorteilhaft wurde, die Affekte zu mäßigen, sie nicht mehr unmittelbar auszuleben, sie vielmehr hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens, in c einen Privatbereich zu verbannen. Inzwischen seien wir von einem stabilen Panzer aus Vorschriften und Regelungen umgeben, der deshalb kaum spürbar sei, weil wir die Fremdzwänge vorheriger Zeiten in Eigenzwänge verwandelt hätten, so daß sie uns quasi natürlich erschienen. Aber auch angebliche Lockerungen und Befreiungen, wie etwa die gegenwärtigen Tendenzen zum Nacktbaden oder zum „Oben ohne“, seien nur scheinbare Informalisierungen. Solche „Liberalisierungen“ seien nämlich nur möglich, weil der hohe Standard von Triebgebundenheit völlig gesichert sei.
Hans Peter Duerr führt nun den Nachweis, daß diese Zivilisationstheorie falsch ist, daß sie weder den fremden Völkern noch unserer eigenen Vergangenheit gerecht wird. Er zeigt, daß der Mythos vom Zivilisationsprozeß identisch ist mit der Ideologie, die herangezogen wurde, um den Kolonialismus zu rechtfertigen, insoweit dieser behauptete, es gehe den europäischen Nationen darum, noch unentwickelte, unzivilisierte Menschen, die sich kaum von Kindern unterschieden, zu Zivilisierten, zu Erwachsenen zu machen. Duerr vertritt die These, die soziale Verflechtung und damit die soziale Kontrolle sei in „traditionellen“ Gesellschaften wesentlich größer und intensiver als in modernen, und entsprechend sei auch das Bedürfnis nach Initimität, nach einer Privatsphäre, größer.
Da in solchen kleinen, überschaubaren „face to face“-Gesellschaften Privatheit freilich nicht durch materiale Wände herstellbar war und ist, hat man für das Auge unsichtbare Wände errichtet, die alles das gegenüber dem Blick des anderen absichern, was bei uns immer noch eher physisch ausgesondert wird. So wird z.B. der nackte Leib - der, entgegen dem, was viele Wissenschaftler sagen, allemal sexuell wirkt - häufig mit einer Art „Phantomkleidung“ bedeckt, indem man dazu erzogen wird, entweder von dem anderen den Blick abzuwenden oder durch ihn „hindurchzusehen“. Aber auch für unsere Gesellschaften läßt sich, so Duerr, eine Zunahme der Zivilisation, also eine Internalisierung gesellschaftlicher Regeln, nicht nachweisen. Um dies zu belegen, unternimmt der Autor eine Neubewertung (die bei ihm zu einem Neu-Erzählen wird) der Quellen, auf denen die gängig Zivilisationstheorie basiert.
Ausgehend von der Kritik an der herrschenden Zivilisationstheorie, entwickelt Hans Peter Duerr eine Kulturgeschichte und Ethnologie der sexuellen Scham und Schicklichkeit, die nicht nur die abendländische Geschichte seit ihren nachvollziehbaren Anfängen, sondern auch jene Völker miteinbezieht, die an der Peripherie der sogenannten Hochkulturen gelebt haben. Er begründet die Vermutung, daß es zumindest innerhalb der letzten vierzigtausend Jahre weder Wilde noch Naturvölker, weder Primitive noch unzivilisierte Völker gegeben hat.

Über den Autor und weitere Mitwirkende
Hans Peter Duerr, geboren 1943 in Mannheim, war bis 2005 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte in Bremen. Er lebt in Mannheim und Heidelberg.

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Re: Literaturtipp

Beitrag von JDK » So 22. Jan 2023, 12:14

Endlich mal wieder ein lesenswerter Beitrag! Danke Nudehiker. Bleibt zu hoffen, dass die Thesen jetzt hier nicht unsachlich zu Tode diskutiert wird.

Nackige Grüße JDK

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Re: Literaturtipp

Beitrag von JDK » So 22. Jan 2023, 13:21

JDK hat geschrieben:Endlich mal wieder ein lesenswerter Beitrag! Danke Nudehiker. Bleibt zu hoffen, dass die Thesen jetzt hier nicht unsachlich zu Tode diskutiert werden.

Nackige Grüße JDK

 
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Re: Literaturtipp

Beitrag von Nudehiker » So 22. Jan 2023, 20:05

... daraus: Leseprobe
"Der nackte Held im alten Griechenland"

Nachdem der schiffbrüchige Odysseus an den Strand des Phäakenlandes gespült worden war und die Nacht im Schutze eines dichten Gebüschs verbracht hatte, vernahm er am Morgen die Stimmen
junger Mädchen, und er fragte sich, ob es wohl Nymphen oder Menschen seien, deren Kreischen zu ihm drang:


»Sprach's und tauchte aus dem Gehölz, der hehre Odysseus, brach mit kräftiger Hand aus dem dichten Gebüsch einen
Laubzweig, um sich damit am Leibe die Blöße des Mannes
zu decken.«

Schon immer haben Interpreten dieser Szene bezweifelt, daß der edle Held sich vor den Jungfrauen in einer Weise geschämt
habe, wie dies unsere Ureltern taten, als sie ihre Genitalien mit Schurzen aus Feigenblättern bedeckten, nachdem ihnen die Augen aufgegangen waren. So hat man etwa darauf hingewiesen,
Odysseus habe sich deshalb geschämt, weil er, der mehr als zwei Tage und zwei Nächte im aufgewühlten Meer getrieben
war, einen Anblick bot, der nicht gerade comme il faut zu nennen ist: verschwollen und zerschunden, die Haut mit einer Salzkruste
überzogen. Und in der Tat heißt es:

»Also trieb es Odysseus nun, zu den lockigen Mädchen
hinzutreten, nackt wie er war; denn es kam ihn die Not an. Gräßlich erschien er denen, entstellt vom Salze des Meeres.«

Aber warum bedeckte dann der Schiffbrüchige »die Blöße des Mannes«, warum hielt er den Zweig vor die Genitalien und nicht vor sein entstelltes Gesicht?


Daß »der Göttergleiche« sich schlicht davor
schämte, daß die Jungfrauen seine Genitalien sahen,
erhellt sich kurz darauf, als Nausikaa ihn dazu auffordert, im Fluß zu baden und sich dann zu bekleiden, worauf Odysseus
nämlich sagt:

»Mädchen, so stellt euch doch ein wenig zur Seite, damit
ich ab von den Schultern das Salz mir wasche und mich dann ...

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Re: Literaturtipp

Beitrag von Mandragora » Mo 23. Jan 2023, 14:15

Das stellt aber jetzt die Behauptung von der natürlichen, nicht sexuell behafteten Nacktheit, auf die man sich in FKK Kreisen so gerne beruft, arg in Frage und bestätigt eher die Ansichten derer, die die Nacktheit ablehnen.
Oder verstehe ich da einfach nur etwas falsch?

 
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Re: Literaturtipp

Beitrag von Nudehiker » Mo 23. Jan 2023, 18:41

... es war nur ein Auszug aus einem Buch; nun, ich bin nicht der Autor. Die Thesen wurden weiter oben zusammengefasst. BTW: einen komplett unschuldigen Zustand im Menschen gibt es sicherlich nicht.

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Re: Literaturtipp

Beitrag von ad peter » Mo 23. Jan 2023, 19:52

BTW: Hallo Horst, vielleicht kann man eine Rubrik FKK-Literatur einführen. Denn es gibt ja schon viele Bücher über FKK, Naturismus und so. Oder gehört das zu FKK in den Medien?

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Re: Literaturtipp

Beitrag von Bummler » Di 24. Jan 2023, 11:05

Das Thema hatten wir übrigens schon in der "Zukunftswerkstatt" Seite 65:
viewtopic.php?f=24&t=7811&p=71693&hilit=Duerr#p71693

Aber das kann man ja wieder mal hervorholen.


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