Weil hier kürzlich viel vom Zeitgeist die Rede war, habe ich heute ein bisschen im Netz gestöbert – und das gefunden:
SWR2 Essay: Zeitgeist, der große Ansager; von Monika Boll. Weil es ziemlich lang ist, zitiere ich nachfolgend nur das für unsere Diskussion Wesentliche. Was natürlich nicht heißt, dass andere Teile des Essays uninteressant oder unwesentlich wären.
Wenn wir vom Geist der Zeit sprechen, dann ist immer auch ein moralisches Klima gemeint. Unter dem Zeitgeist wird die allgemeine geistige Verfassung verstanden, die das Bewusstsein jedes Einzelnen bestimmt. Der jeweils herrschende Geist der Zeit verfügt über eine normative Autorität. Der Kulturphilosoph Ralf Konersmann schreibt:
„Der Zeitgeist improvisiert ein Sinnangebot, das nur für uns, für unsere Gegenwart gelten soll. Diejenigen, die sich zum Zeitgeist bekennen, finden an ihm Halt und Sicherheit, und umgekehrt definiert die Anerkennung solcher Vorgaben Zeitgenossenschaft und Zugehörigkeit.“
Der Geist der Zeit zielt demnach auf einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich eines vermeintlich allgemeingültigen Wertekanons. Seine Unterstützer belohnt er mit Sicherheit im moralischen Urteil und der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv.
[…]
Interessante Anhaltspunkte zu der von Blumenberg aufgeworfenen Problematik findet man aber auch in anderen Zusammenhängen, etwa in Fragen zum Verhältnis von Recht und Moral. Nach allgemeinem Verständnis knüpft die rechtliche Verfassung eines Staates ihre Legitimität an die Voraussetzung eines außergesetzlich geltenden Wertekanons, vor allem an die Annahme eines überzeitlichen Begriffs von Gerechtigkeit. Ohne dies wäre die Akzeptanz einer allgemeinen Rechtsordnung schwer einzufordern. Andererseits befinden sich auch Rechtssysteme – und das nicht nur nach gewaltsamen politischen Umbrüchen – in ständiger Veränderung.
Dies wird besonders deutlich bei Entscheidungen im Rahmen des Ehe-, Sexual- und Familienrechts, die auf die allgemeine sittliche Ordnung rekurrieren. Man denke etwa an die lange unselige Geschichte des § 175, der noch bis 1969 einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Männern als sittenwidriges Verhalten unter Strafe stellte. Dies weist auf ein juristisches Dilemma, von dem selbst das Grundgesetz der Bundesrepublik nicht frei ist. In Artikel 2, Absatz 1 heißt es zu den persönlichen Grundrechten:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Aber was ist das Sittengesetz? Der Staatsrechtler Günter Erbel definiert es folgendermaßen:
„Das Sittengesetz ist die Summe derjenigen sittlichen Normen, die die Allgemeinheit als richtig anerkennt und als für das menschliche Zusammenleben verbindlich ansieht. Das Sittengesetz ist eine der drei Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit der freien Entfaltung der Persönlichkeit.“
„Die Geltung eines grundrechtsbeschränkenden Sittengesetzes im Einzelfall festzustellen, ist mit besonderen Problemen verbunden … Für die Auslegung des Verfassungsbegriffs ,Sittengesetz‘ ergeben sich aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes so gut wie keine Anhaltspunkte. In der heutigen pluralistischen Gesellschaft ein Sittengesetz als verbindlichen Ausdruck des maßgebenden moralischen Bewusstseins festzustellen, ist eine Aufgabe, die der Quadratur des Kreises nahekommt.“
Der Quadratur des Kreises in Moralfragen ist jedoch kaum zu entkommen. Einerseits erhebt das Recht den Anspruch auf eine weltanschaulich neutrale Gesetzgebung, andererseits muss es sich dabei auf Normen beziehen, die nicht ewig und unumstößlich gelten, sondern dem Wandel des Zeitgeistes unterliegen.
Ich finde, dass sind interessante und gute Erläuterungen zum Thema Zeitgeist, Recht und Moral.