Shiva205
Eule hat geschrieben:Die bürgerliche Moral hat immer dort ihre Schwachpunkte, wo das gezeigte Verhalten von dem gewollten abweicht.
Das ist ein wichtiger Aspekt. Er betrifft auch auch die Unterdrückung der Sexualität - sei es durch Kleidungs- oder durch Verhaltensvorschriften.
Dieser Einwand von dir ist richtig. Damit wir aber im Thema der Nacktheit weiter kommen können, möchte ich grundsätzlich alle Fragen zur Sexualität zurück stellen. Wir verzetteln uns sonst. Das Thema der Sexualität kommt noch. Da es mit viel mehr negativen Begriffen und Tabus belegt ist, sollten wir uns erst einmal nur dem Thema der Nacktheit zuwenden. inverstanden?
In Bezug auf die Nacktheit stellt sich die Frage, warum diese Provokation "zur Freiheit" ... nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Empfindens des Bürgertums führt
Wer ist das heutige Bürgertum?
Zum Bürgertum werden heute alle hinzugerechnet, die weder der Oberschicht (Adel, Manager, leitende Politiker, ect.) oder der Unterschicht (Obdachlose, Menschen mit niedriger Intelligenz, Obachlose, etc.) zugerechnet werden. Diese heutige Gemengelagen des Bürgertums macht es relativ schwierig, jetzt eine umfassende bürgerliche Moral zu definieren. Wir können und werden uns daher auch nur auf die Hauptströmungen innerhalb der bürgerlichen Moral beschränken.
Das Problem mit der Tabuisierung der Nacktheit kommt meiner Meinung nach nicht mehr aus unserem Bürgertum, sondern aus dem Import amerikanischer Kleinbürgerlichkeit, die in unseren Konsum-Medien total überrepräsentiert ist.
Ich denke, dass dieser Import der amerikanischen Kleinbürgerlichkeit und die Angst vor der Nutzung der neuen techn. Medien hinzukommt und so einer Entspannung in Richtung der Toleranz von Nacktheit in bestimmten öffentlichen Räumen oder gar insgesamt entgegen wirkt.
@ Zett
Der "vernünftige" Grund besteht im realen Prozess von Gesellschaften und der ist vor allem geprägt vom Spiel mit der Macht, sprich Zettelchen (Gesetze) hin und her, genau so entscheidend - mitunter eben auch entscheidender - sind Machtinteressen. Und wenn ein Richter glaubt, es könne seiner Karriere, seinem Ansehen im Kollegenkreis schaden, wenn er ein Urteil zu Gunsten eines Nackten fällt, dann wird er das Urteil eben nicht so sondern anders fällen - die Spielräume sind gerade in diesem Bereich relativ groß.
Ich kann diese deine Argumentation in keinem Fall folgen. Ich halte diese für sachlich unzutreffend und für nicht gerechtfertigt.
Mir gefällt die Rechtslage und die Rechtsprechung in diesem Bereich auch nicht sonderlich - so fordere ich auf meiner Seite das Grundrecht auf Bekleidungsfreiheit ...
Mit dieser deiner Forderung stehst du hier so alleine. Was soll das Grundrecht auf Bekleidung bezwecken? Es soll doch hier genau auf das Gegenteil hin gearbeitet werden, nämlich auf ein Recht der freien Wahl zur Nacktheit.
hajo
Shiva205 hat geschrieben:Nur steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann "springt" dann auch die öffentliche Meinung um, und man wird sich dann vielleicht fragen, was für abstruse Verbote es damals gegeben hat.
Das hatte ich früher auch einmal gehofft. Allerdings, wenn ich so die Entwicklung der letzten Jahre betrachte, habe ich den Eindruck, dass es einen eher gewaltigen Roll-Back gibt. Daran ändert auch die veröffentlichte Freiheit im Internet nichts.
In den 1970er und '80er Jahren war m. E. die Gesellschaft eindeutig freier. Trotz sogar gegenteiliger Vorschriften. Sogar in heimischen Freibädern und in den Parks der Städte ließ man das Nacktbaden zu, richtete abgegrenzte Bereiche ein. Ich habe damals tatsächlich gehofft, dies könne bereits die erste Auswirkung eines solchen steten Tropfens sein.
Hier wird dir Aria sicherlich voll und ganz zustimmen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die von dir gesehene Freiheit in der Tat nur eine Modewelle war, diese Modewelle nun fast verschwunden ist. Gerade die unbegrenzte Nutzung und Verfügbarkeit des Internets ist meiner Meinung nach mitverantwortlich für die von Aria so befürchtete Prüderie.
@ Bummler
Ich stelle mal die kühne These auf, dass genau diese Freiheit im Internet dazu führt, dass Nacktheit aus der realen Welt verdrängt wird.
Denn den Dreck (aus dem Internet) will man sich ja im richtigen Leben nun wirklich nicht antun.
Ich denke, hier verbindest du zwei unterschiedliche Sachverhalte, die so nicht zusammen gehören.
@ Aria
Zweitens ist Eules Vorstellung, würde man den jungen Menschen nicht "beschneiden", so würde dieser sich zu einem charakterlich zweifelhaften Menschen entwickeln und dem Verderben preis gegeben., eine zutiefst pessimistische.
Das ist nicht meine Vorstellung, sondern die von Rousseau.
Sie ist gewachsen auf dem Beet der katholischen Kirche, die den Menschen von Geburt an als schlecht bzw. als empfänglich für die Einflüsterung des sogenannten Bösen – des Teufels – ansieht.
Ich glaube, dass sich Rousseau kaum von den Vorstellungen der kath. Kirche hat leiten lassen.
Nein, die Erziehung dient allein dem Zweck, sich in die Gemeinschaft, in die man zufällig hineingeboren worden ist, anzupassen. Hier wird einem beigebracht, was man darf, was man nur unter Umständen darf, und was keinesfalls geht.
In dieser Gesellschaft geht die vollkommene Nacktheit in der Öffentlichkeit nicht, es sei denn, man ist bereit in Kauf zu nehmen, als Sonderling zu gelten.
Der erste Absatz dieses deines Beitrages wird von mir voll und ganz mitgetragen. Der zweite Absatz beschreibt nach meiner Meinung einen Teilaspekt dieses Problems. Der von dir genutzte Begriff "Sonderling" ist ein sehr wichtiger Begriff, der zugleich im Widerspruch steht mit der Aussage des ersten Absatzes. Und genau um diese Spannung geht es. Was begründet diese Spannung?
Das ist Ergebnis einer Erziehung, die erst im letzten Jahrhundert etwas lockerer geworden ist – man darf nicht vergessen: Erst im Jahr 2000 darf man Kinder auch privat nicht mehr prügeln. Und warum gab das Prügeln überhaupt? Weil es in der Bibel steht: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.
Na ja, für dich ist die Kirche für alles Negative verantwortlich. Aber dieses ist nicht Thema dieses Threads.
Es wird jetzt zwar überall pflichtschuldigst behauptet, die Nacktheit sei nichts Schlimmes, aber das Verhalten der Menschen sagt etwas anderes.
Um genau diesen Widerspruch geht es hier. Wo liegen die Gründe hierfür?
Das ist der Unterschied zwischen Verstand – Nacktheit kann eigentlich nicht schlimm sein – und der bürgerlichen Moral, die das Gegenteil für zutreffend hält.
Warum kann sich eine Botschaft, die der Verstand als richtig meldet, sich gegen das Gefühl, dass dieses genau nicht gut sei, nicht durchsetzen?
Und da die bürgerliche Moral, wie sogar Eule es nun zugibt, lange Zeit identisch mit der von der Kirche gelehrten war, wissen wir, wem wir den jetzigen Zustand der bürgerlichen Moral zu verdanken haben.
Hier machst du es dir einfach zu einfach. Ich sagte bereits mehrfach, dass die kirchliche Moral sich an die durch die Philosophie und Pädagogik vorformulierte Moral dran gehängt hat. Lass hier mal die Kirche draußen vor.
Deine Lösungsmöglichkeit:
Weniger auf die hören, die sich nur mit ihren Lippen zur Nacktheit bekennen. Wer die sind? Allen Vertretern und Wähler der Parteien, die C im Namen tragen – und neuerdings auch der Partei, deren Name mit A* anfängt –, ...
greift zu kurz. Denn unter den Mitglieder der anderen Parteien wirst du ebenso Menschen antreffen, die die gleiche Haltung vertreten.
@ Zett
Ich denke, sexuelle bzw. erotische Wirkung entsteht in erster Linie dann, wenn es etwas Besonderes ist: ...
Dieses hat mit dem Thema dieses Threads nichts zu tun. Wie hieß es in der Schule: "Thema verfehlt."
@ hajo
Eule hat geschrieben:Da du, so sehe ich es, immer wieder biologische Prozesse und Abläufe mit Willensentscheidungen zusammen erwähnst, gewinne ich den Eindruck, dass du diese beiden unterschiedlichen Sachverhalte nicht trennst. Und ich weise nur darauf hin, dass diese beiden unterschiedlichen Sachverhalte nicht in einen Topf geworfen werden dürfen, auch wenn es hier Überschneidungen und viele Schnittstellen gibt.
Wo steht dieses Verbot?
Das hier zu besprechende Thema ist ein psychologisches und/oder pädagogisches Problem. Darum spielen biologische Abläufe hier keine Rolle. Ich weiß, die von dir zitierten Wissenschaftler vertreten hier eine andere Meinung. Aber beim Computer spielen bei software indizierte Probleme die hardware keine Rolle, es sei denn, die hardware wäre nicht in der Lage, den Anforderungen der software zu genügen. In unserer Problemstellung spielen also die biologischen Voraussetzungen keine Rolle, es sei, das Gehirn sei nicht in der Lage, dieses Problem zu bearbeiten. Wir gehen aber vom Normalfall aus und da wird vorausgesetzt, dass das Gehirn alle Funktionen erfüllt, um unser Problem zu lösen oder einer Lösung zuzuführen.
Gerade die bürgerliche Moral mit ihren ungeschriebenen Normen ist ein hervorragendes Beispiel für die Frage, ob es wirklich einen freien Willen gibt oder nicht.
Also: gibt es ihn, deiner Ansicht nach, oder nicht?
Ja, ich bin der Überzeugung, dass es den freien Willen gibt. Die Argumente derjenigen, die dieses bezweifeln, sind aber ernst zu nehmen. Sie beschreiben nach meiner Meinung die Grenzregion zwischen dem freien Willen und den Handlungen, die dem freien Willen nicht unterliegen. Ich meine hier ausdrücklich nicht die biologisch bedingten Aktivitäten. Denn diese spielen für unser Thema keine Rolle.
Wenn auch nur die kleinstmögliche Beeinflussung, Menschen zu anderen Handlungen oder Ansichten führen, als die, die sie zuvor hatten, funktioniert, dann ist der "freie Wille" dahin.
Ja das stimmt. Dann sprechen wir vom Gruppendruck oder anderen Massenphänomenen. Es zeigt sich hier, wie zerbrechlich der freie Wille oft ist. Anderseits kann man sich diesen Massenphänomenen auch bewusst entziehen.
Deine weiteren Ausführungen sind materialistisch geprägt. Wir könnten uns jetzt philosophisch darüber auseinander setzen, ob die Leitung für das Wesen des Stromes verantwortlich ist, weil ohne Leitungen Strom nicht transportiert werden kann, oder ob Strom etwas anders ist. So eine Diskussion, freier Wille versus Gehirn, ist sicherlich interessant, führt uns in diesem Thema nicht weiter. Hier bei uns steht der freie Wille gegen den gebundenen Willen. Dieser gebundene Willen ist nun nicht ein Instinkt, obgleich ein Instinkt immer Handlungen bindet, sondern ein durch gesetzte Normen gebundener Willen.
Auf unsere Fragestellung bezogen wäre es die Frage: "Warum gehe ich gerne nackt?"
Oder vielleicht auch die andere Seite beleuchtend: Warum wollen viele nicht nackt sein?
Deine Gegenfrage impliziert, dass das in der Öffentlichkeit Nacktgehen "normal" sei. Dieses ist es leider nicht. Aber warum nicht?
Hans H.
Der gesellschaftliche Zwang, der im Kindesalter eingetrichtert wurde, verursacht dieses innere Zwangsverhalten, das ich mit "innerer psychologischer Zwang" meine.
Es stellt sich nun die Frage, warum vermögen wir es nicht, uns von diesem Zwang zu befreien? Was hindert uns daran? Wir legen doch auch so manchen in der Kindheit auferlegten "Zwang" ab. Warum diesen nicht?
@ hajo
Wer aber von sich behaupten möchte, wenigstens manchmal einen "freien Willen" zu haben, muss das auch bisweilen - vor allem sich selbst - deutlich machen.
Hier stimme ich dir zu. Dieses war und ist nicht immer einfach. Aber ein selbstbestimmtes Leben ist ohne freien Willen nicht möglich.