HTJ hat geschrieben:Ich gehe der Frage nach, welchen Sinn es in der Evolution des Menschen macht, die Menschen mit solch einen Schamgefühl auszustatten, und welche Rückschlüsse man daraus zieht.
Um sich mit dieser Frage zu befassen, muss man sich die Fortpflanzungsstrategie des Menschen anschauen. Wie jedes Lebewesen will und muss sich der Mensch fortpflanzen um nicht auszusterben. Ein Reihe von Lebewesen macht das nach dem Motto: Masse statt Klasse. Dadurch überleben dann genug Nachkommen. Beim Menschen aber geht das nicht. Ein Geburt ist sehr anstrengend und ein Kind braucht sehr lange, ehe es selbstständig ist. (...) Also ist Ziel für jede menschlichen Gesellschaft, Sexualität mehr oder weniger zu regulieren.
Jetzt kommen wir auf die Sache mit der Kleidung. Natürlich war Kleidung zuerst Schutz gegen Kälte. Aber bald hat auch die Kleidung die Funktion bekommen, Sexualität zu regulieren. Jeder Kulturkreis hat einen anderen Grad der Bedeckung. (...)
Die Evolution hat beim Menschen, anders als bei fast allen anderen Tieren, noch einen über dem Individuum liegenden Gruppenaspekt.
Wir sind als Horden durch die Steppe gestreift bzw. haben halbseßhaft wie die Yanomami im Wald gewohnt. Das funktionierte nur mit Regelungen innerhalb der Gruppe und mit Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Diese Mechanismen unterlagen ebenfalls der Evolution.
So wie es heute keine orangenen Amseln gibt, weil die alle sofort gefressen worden wären, wenn sich je welche entwickelt hätten, sondern diese ein Tarnkleid tragen mit dem Maximum eines kleinen orangenen Schnabels beim Männchen, so sind auch unsere Verhaltensweisen im Sozialumfeld instinktiv und grob vor 50000 Jahren ausgemendelt wurden. Auch wenn jeder meint er wäre da wunder wie selbstbestimmt.
Die Yanomami fühlen sich nackt, wenn sie keine Schnur um die Hüfte haben (rennen aber völlig nackt rum), auf Papua-Neuguinea müssen die erwachsenen Männer dicke Kürbisrohre auf ihre Glieder aufschieben, damit diese als angemessen unauffällig bedeckt gelten und bei uns hat man zwanzigseitige Bekleidungsvorschriften fürs Büro.
Der Inhalt der Regeln ist dabei relativ beliebig und in der jeweiligen Gruppe entstanden, aber der Grund dafür, *daß* es solche Regeln gibt, ist uns evolutionär eingeprägt. Und das ist die Regulierung der Sexualität.
Gerade weil die Aufzucht beim Menschen so langwierig ist, ist es wichtig, daß diese in stabilen Verhältnissen stattfindet. Gruppen, bei denen das nicht geklappt hat, sind zusammen mit ihren diesbezüglichen Regeln untergegangen.
Wie ich mal in einer Doku sah, ist es weltweit in allen Kulturen verbreitet, daß jedem frischgebackenen Vater alle um ihn herum sofort versichern, wie sehr ihm sein Kind ähnelt. Weil es für den Bestand der Gruppe überlebenswichtig ist, daß er Frau und Kind unterstützt. Wenn nicht, stirbt die Gruppe aus. Es gibt Simulationen bei Artenanpassungen, daß schon ein um wenige Prozent höherer Bruterfolg binnen weniger Dutzend Generationen zur völligen Dominanz der besser angepaßten Art führt. Also wenn z.B. eine Amselmutation entsteht, die eine bestimmte für Amseln bisher giftige Beere verdauen kann, und dadurch weil sie etwas besser genährt ist durchschnittlich 2,5 Küken pro Jahr großzieht und die anderen nur 2,3 Küken, dann gibt es nach evolutionstechnischen Maßstäben binnen kürzester Zeit nur noch Amseln, die die Giftbeeren essen können.
Genauso haben sich beim Menschen, wobei ich strenggenommen sagen muß "mutmaßlich", weil ich zwar interessierter Laie bin aber kein Wissenschaftler aus diesem Bereich, intensive soziale Regeln bezüglich Sexualität und Bekleidung entwickelt. Die allesamt nicht durch rationale Planung entstanden sind, sondern durch Permutationen dieses Steinzeitprogramms.
Da die meisten Menschen in sozialen Zusammenhängen denken und nicht logisch (ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern stammt vom Paläoanthropologen William F. Allman), verteidigen sie diese aus unterbewußten Mechanismen entstandenen Regeln, ohne überhaupt zu verstehen, warum sie das tun. Dazu gehören z.B. auch die von meist wenig reflektierten Menschen vertretenen Positionen zur Abtreibung. Wo sich diese durchsetzen, sind sie praktisch auch ein Kanarienvogel in der Mine (ein schönes Bild übrigens), denn zu restriktiven Abtreibungsregeln gehört meist ein ganzer Stall an im wahrsten Sinne des Wortes steinzeitlichen Einstellungen auch bezüglich Sexualität und Nacktheit.
In Europa, bzw. im westlichen Kulturkreis allgemein, haben wir einen intensiv schädlichen Einfluß der Kirchen über Jahrhunderte. Konnte ich bei einer Freundin mal über längere Zeit miterleben, die als Kind von einer evangelisch-religiösen Tante verzogen wurde. Die Freundin war mittlerweile Frau und Mutter, sexuell durchaus aufgeschlossen, hat sich aber direkt nach dem Sex schamhaft sofort die Hand vor den Schritt gehalten, damit ihr der Mann nicht zwischen die Beine schaut, mit dem sie gerade noch Dinge getrieben hat von der ihre Tante noch nie gehört hatte. Das war so hart verdrahtet und verankert, daß es auch nach Jahren nicht aus ihr herauszubekommen war. Die Ferkeleien dagegen, die sie ohne zu zögern mitmachte, waren halt nie von ihrer Tante besprochen und so auch nie mit einem Tabu belegt worden, aber Nacktheit war nunmal pfui und schäm!
Also, bevor man bei solchen Themen inhaltlich einsteigen kann, muß man erstmal sicherstellen, daß der Gesprächspartner gerade überhaupt sachlich diskutiert und nicht bloß substanzarme Rationalisierungen unterbewußter Prozesse raushaut.
Sonst verläuft das Gespräch wie Diskussionen am Fußballstammtisch, wo zwar jeder seine Mannschaft am besten findet, aber keiner sagen könnte, wann eine Mannschaft denn objektiv gut ist.